Eine Frau mit Autismus
 Joachim Strienz

 

 

 

 
 
 
 
 

 

 

«

 

 

Eine Frau mit Autismus

Ich war auf dem Weg zu meiner Fußpflegerin. Vor ein paar Tagen hatte es ganz plötzlich begonnen. Ich war wie jeden Morgen auf dem Crosstrainer gewesen. Täglich eine Viertelstunde musste einfach reichen, sagte ich mir immer. Nebenbei wurde ein Film gezeigt. Ich lief also in verschiedenen Canyons oder durch Venedig oder auch in Südfrankreich. Ich hatte also immer auch Unterhaltung. Das gefiel mir.

Plötzlich tat mir mein Fuß weh. Es kam von einer Sekunde auf die andere. Es war der linke Fuß. Etwas stimmte da nicht. Ich konnte jetzt auch nicht mehr richtig auftreten. Es tat höllisch weh! Was sollte ich jetzt tun?
Es war doch eigentlich gar nichts passiert! Ich war weder umgeknickt, noch hatte ich mich angestoßen. Aber es war irgendetwas nicht okay. Irgendetwas stimmte da nicht. Aber was? Ich war in Sorge.

Ich kletterte vorsichtig von den Pedalen herunter und alles war wieder gut. Der Schmerz war weg. Vorsichtig belastete ich den Fuß. Dann spürte ich doch wieder ein leichtes Druckgefühl an der linken Fußsohle. In der Mitte, nahe an den Gelenken zu den Zehen, aber dann doch auch noch etwas davor. Und aus dem Druck wurde dann plötzlich sogar ein richtiger Schmerz. Er nahm kontinuierlich zu und dann schmerzte wirklich der ganze Fußbei jedem Schritt. Der Schmerz steigerte sich, bis er dann ganz unerträglich wurde. Ich ging aber trotzdem weiter. Vorsichtiger allerdings, den Fuß ganz bedächtig aufsetzend.

An den nächsten Tagen spürte ich den Schmerz auch. Das war vor allem morgens. Einmal war der Schmerz auch am Nachmittag da. Plötzlich, ohne Voranmeldung. Ich litt sehr! Irgendetwas musste jetzt geschehen!

Aber woher kam dieser Schmerz eigentlich? Ich setzte mich dann einmal hin und zog den Fuß ganz zu mir heran. Dann drehte ich die Fußsohle nach oben. Ich bemerkte nichts Besonderes. Es war nicht einmal eine Rötung zu sehen. Nichts! Vorsichtig tastete ich das schmerzhafte Gebiet mit meinem Zeigefinger ab. Ich spürte den Knochen. Er war fest und hart. Den Schmerz konnte ich aber auf diese Weise nicht auslösen. Also, was bedeutete das alles! Es war mir ein Rätsel.

Seltsam, dachte ich und stellte den Fuß wieder auf den Boden. Dann stand ich auf und versuchte ihn nochmals stärker zu belasten. Sofort kam aber der Schmerz wieder zurück. Und er nahm wieder zu, je länger ich den Fuß belastete. Das war wirklich unangenehm. Aber was sollte ich jetzt tun. Wer konnte mir helfen? Ich war ziemlich ratlos.

Sollte ich jetzt vielleicht doch ein Schmerzmittel einnehmen? Ich öffnete die kleine seitliche Schublade an meinem Schreibtisch und schaute hinein. Ja, ganz auf der Seite lagen noch zwei Schmerz-Tabletten. Ich nahm sie heraus und betrachtete sie. Eigentlich könnte ich jetzt eine davon nehmen. Ich drückte sie aus der Verpackung und nahm sie in den Mund. Die Tablette schmeckte etwas bitter. Schnell schluckte ich sie hinunter. Jetzt würde der Schmerz schnell nachlassen. So war es dann auch. Es ging ganz schnell. Plötzlich war ich wieder komplett beschwerdefrei. Ich genoss es. Ich konnte ja wieder normal gehen. Hoffentlich kam der Schmerz nicht mehr wieder zurück. Das wünschte ich mir so sehr. Diese Tabletten waren einfach toll.

Der Schmerz blieb dann doch tatsächlich weg. Die nächsten Tage. Die Wirkung der Tablette müsste eigentlich schon wieder vorbei sein, aber der Schmerz kam trotzdem nicht mehr zurück. Einen Tag nicht und auch den nächsten nicht. Ich hatte den Schmerz inzwischen schon wieder ganz vergessen. Unbekümmert war ich wieder umhergegangen. Die Tablette hatte großartig gewirkt. Ich war glücklich.

Dann war er aber plötzlich doch wieder da. Warum kam er denn wieder? Ich war so enttäuscht. Ja, ich war wieder auf meinem Crosstrainer gewesen. So wie immer, nichts Besonderes eben. Es tat dann wirklich wieder unangenehm weh. Schon aus Protest nahm ich jetzt keine Tablette mehr, nein heute nicht. Das musste auch so gehen. Ich wollte nicht. Ich konnte doch nicht dauernd Tabletten einnehmen. Wozu?

Und so ging es immer wieder hin und her. Ich hatte Schmerzen, dann wieder nicht. Sollte ich vielleicht den Fuß nochmals abtasten? Ich schaute hinunter. Es sah aus wie immer. Keine Rötung. Keine Schwellung. Es war nichts zu sehen.

Und wieder vergingen einige Tage.

Doch, heute war es dann plötzlich anders. Ich fand, dass der linke Fuß jetzt doch etwas dicker als der rechte war. Ich spielte mit den Zehen. Bewegte sie hin und her. Doch der Fußrücken, am Übergang zu den Zehen, war heute dicker als sonst. Ich drückte vorsichtig mit dem Finger dagegen. Alles war ganz elastisch. Es gab keine Dellen. Aber, der linke Fuß war eindeutig dicker als der rechte. Und der rechte tat ja auch nicht weh. Also hatte die Schwellung etwas mit den Schmerzen zu tun. Ja, so musste es sein. Da war ich mir sicher. Jetzt hatte ich einen Befund. Jetzt war alles klar. Bestimmt gab es eine Untersuchung dafür. Röntgen, CT oder MRT?

Schimmerte da an der Schwellung die Haut nicht auch etwas bläulich? Ich bewegte den Kopf hin und her. Doch, die Haut sah anders aus. Es war nur links, nicht aber rechts. Die Verfärbung lag auf der Schwellung und dort war ja auch der Schmerz. Die Haut schimmerte wirklich etwas bläulich. Also musste etwas passiert sein. Bloß was? Ich wusste es nicht. Ich brauchte jetzt jemanden, der sich damit auskannte. Aber wen konnte ich fragen?

Also, es war dort doch etwas. Es gab einen Grund für diese Schmerzen. Die bläuliche Verfärbung und die Schwellung waren die Ursache. So musste es sein.

Aber was jetzt?

Es war ein Bluterguss! Aber wovon? Ich hatte mich doch gar nicht gestoßen!

Aber es war wirklich ein leichter Bluterguss!

Aber was jetzt? Wer konnte mir weiterhelfen?

Ich hatte plötzlich die Idee, zu meiner Fußpflegerin zu gehen. Ja, zu ihr! Nicht zum Orthopäden und auch nicht zum Röntgen. Nein, zu meiner Fußpflegerin. Zu ihr hatte ich vollstes Vertrauen, sie würde sich den Fuß ansehen und dann entscheiden, was getan werden musste. Ihr würde ich alles überlassen. Der Fuß musste jetzt zu ihr. Sie war genial. Sie hatte ein Leben lang nur Füße gesehen. Sie konnte mir bestimmt in dieser Situation helfen. Ja, zu ihr musste ich jetzt. Das war mir jetzt klar.

Ich war erleichtert. Ich hatte nun eine Entscheidung getroffen. Jetzt würde alles wieder gut werden. Ich freute mich, sie wieder zu sehen. Ich musste zu ihr und zwar möglichst bald. Ich würde sofort einen Termin bei ihr ausmachen.


Ich fuhr mit dem Bus zu ihr, denn es gab dort an der Praxis keine Parkplätze. Der 42er hielt ja ganz in ihrer Nähe. Es waren dann nur noch ein paar Schritte bis zur Praxis. Das war jetzt eine gute Idee. Sie hatte mir ganz kurzfristig einen Termin gegeben und mir versichert, sie würde den Fuß ganz genau ansehen. Ich sollte jetzt keine vorschnelle Entscheidung treffen. Ich war so dankbar.

Der Bus brauchte länger als sonst. Es gab nämlich jetzt eine neue Busspur vor der Ampel an der Durchgangsstraße. Dadurch dauerte alles nun viel länger, bis die Fahrzeuge über die Kreuzung kamen, denn es stand jetzt ja nur noch eine normale Fahrbahn zur Verfügung. Auch der Bus brauchte dadurch länger, bis er überhaupt seine Busspur erreichen konnte. Aber das hatten die Planer nicht voraussehen können. Sie wollten ja etwas Gutes bewirken. Dass jetzt das Gegenteil eingetreten war, konnte niemand voraussehen. Nein, wirklich nicht. Jetzt schimpften alle natürlich über die Planer. Sie mussten einem aber eher leidtun. Das konnte nun wirklich niemand voraussehen. So war es eben! Alles gut gemeint.

Dann war ich dort. Ich stand vor ihrer Tür und klingelte. Gleich würde sie öffnen. Sie war schon etwas älter, aber sie war sehr herzlich. Ihr konnte man immer sein Herz ausschütten. Sie hörte sich immer alles an. Dann sagte sie zwei bis drei Sätze und die brachten es dann auf den Punkt. Man war erleichtert. Sie gab immer eine ehrliche Antwort. Ich freute mich auf sie. Manchmal war sie aber auch ziemlich anstrengend. Dann erzählte sie ohne Punkt und Komma von ihren Reisen. Ja, so war sie eben. Alles gut.

Es öffnete sich die Türe und eine sehr junge Frau lächelte mich an. Ich hatte sie bisher noch nie gesehen. Sie war sicherlich neu hier. Ich war überrascht. Sicherlich würde jetzt gleich meine Fußpflegerin auch in der Türe erscheinen.

Sie war blond. Es war ein blond, das irgendwie anders war als ich es bisher gekannt hatte. Heller? Nein, etwas, das in ein leichtes grau überging. Das Haar war glatt und lang. Sie war noch jung und sie hatte solche Haare? Ich war überrascht. Sie lächelte mich an. Ihr Lächeln war bezaubernd. Man konnte gar nicht genug davon bekommen. Dieses Lächeln konnte alles heilen, davon war ich plötzlich überzeugt. Ich dachte an meinen Fuß. Hier war ich sicherlich total richtig!

Auch ich lächelte jetzt und ging durch die geöffnete Türe. Sie stand jetzt direkt vor mir. Sie war nicht zu groß, unter 170 cm und schlank. Sie hatte ein schwarzes Hemd mit schmalen Trägern an. Die Arme waren komplett frei. Der linke Arm war vollständig tätowiert mit Blumen, die wie Rosen aussahen und das Tattoo ging vor bis zu den Fingern. Die Farben Rot und Grün dominierten. Aber das war nicht alles. Das tief ausgeschnittene Hemd gab den oberen Teil ihres Dekolletés frei und zeigte einen Totenkopf und andere Muster, die ich aber nicht eindeutig zuordnen konnte. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich war etwas erschrocken. Diese schöne Frau war tätowiert. Warum tat sie das denn?

Sie lächelte mich noch immer an. Die beiden oberen mittleren Schneidezähne standen etwas weiter auseinander als die benachbarten. Aber es störte nicht. Wirklich nicht. Die Nase war eher klein. Sie hatte dunkle Wimpern, das konnte ich auch noch erkennen. Am Oberkiefer war ein dunkler Fleck sichtbar. Später konnte ich erkennen, dass es auch ein Tattoo war.

„Entschuldigen Sie, aber Frau Reindl ist plötzlich krankgeworden. Sie hat mich nun gebeten, Sie heute zu behandeln. Ich heiße Julia.“

„Gerne komme ich heute auch zu Ihnen“, sagte ich und wir gingen zusammen in den Behandlungsraum. Plötzlich hatte ich Frau Reindl total vergessen. Ihr wollte ich ja meinen Fuß eigentlich anvertrauen.

Ich kannte mich ja bereits aus. Es gab hier einen großen Behandlungsstuhl, auf dem ich mich niederließ. Ich öffnete dann meine Schnürsenkel, zog die Schuhe aus und stellte sie dann auf der rechten Seite ab. Dann streifte ich noch die Socken vom Fuß ab und legt sie zu den Schuhen. Danach setzte ich mich in den Behandlungsstuhl und streckte meine Beine aus.

Sie hatte sich inzwischen eine Schürze umgebunden und Handschuhe angezogen. Dann schob sie einen Hocker an die Schmalseite der Liege, auf den sie sich langsam hinsetzte. Aus einer Schublade nahm sie noch einen Mundschutz und band ihn hinter ihrem Kopf fest.

Geschickt nahm sie einen meiner Füße. Mit der linken Hand hielt sie den Fuß am Fußrücken fest. Dabei lag der Daumen auf der Fußsohle und die anderen Finger über dem Fußrücken. Mein empfindlicher Fuß. Oh je! Ich wartete besorgt auf den Schmerz, aber zum Glück tat nichts weh. Ich konnte mich also wirklich ganz entspannen und lehnte mich zurück. Sie schaute sich alles ganz genau an. Mit der rechten Hand spreizte sie die Zehen und schaute so in die Zwischenräume. Dann legte sie den Fuß ab und holte ihr Werkzeug.

Sie sprach nicht. Auch ich sagte nichts. Ich beobachtete sie aber ganz genau. Diese Frau fand ich doch ziemlich interessant.

Zuerst schnitt sie mir die Fußnägel, dann begann sie die Hornhaut mit dem Schleifapparat abzutragen. Ein hochfrequentes Geräusch war nun zu hören. Sie war sehr geschickt im Umgang mit meinen Füßen.

„Ist alles gut?“ fragte sie mich dann doch einmal und riss mich aus meinen Gedanken.

„Ja“, sagte ich und lächelte sie an.

Sie redete nicht. Ich beobachtete sie die ganze Zeit. Sie redete nicht und fragte mich auch nichts. Ganz anders war da ja ihre Chefin. Die redete ja meist ununterbrochen. Das war mir oft auch schon zu viel gewesen. Immer ging es um Urlaub und Verreisen. Sie war ja ständig unterwegs. Das war mir immer wieder aufgefallen.

Irgendwann war sie fertig, dann sprühte sich etwas Schaum auf die linke Hand und begann meine Füße damit zu massieren. Ich bin ja so kitzelig an den Füßen. Immer wollte ich meinen Fuß wegziehen, aber sie hielt ihn ganz fest. Sie massierte unverdrossen weiter. Eine wohlige Wärme lag jetzt über meinen Füßen. Ich fühlte mich sehr gut und war jetzt auch ganz entspannt. Ich war sehr zufrieden mit dieser Behandlung.

„Wir sind so weit!“ sagte sie und legte ihr Handwerkszeug weg. Sie stand auf, holte meine Schuhe und reichte sie mir. Das waren die wenigen Worte, die sie sprach während der gesamten Behandlung.

Ich setzte mich nun wieder auf den Rand der Liege, streifte die Socken über meine Füße und zog die Schuhe wieder an.


Sie beobachtete mich jetzt. Dann trafen sich unsere Blicke. Sie lächelte wieder und sagte dann:

„Sie haben wirklich schöne Füße. So schlank und auch so zart die Fußsohlen. Sie sind sicherlich nicht so gut beim Barfußlaufen.“

Jetzt musste ich lachen, denn das war ja wirklich so. Ich konnte nicht Barfußlaufen, weil ich jedes Steinchen spürte. Alles war dann sehr schmerzhaft. Immer hatte ich Schuhe an, auch am Strand.

„Ja, Sie haben recht, das ist sehr schwierig für mich. Ich vermeide es eigentlich immer.“

Ich stand dann auf, bezahlte und reichte ihr die Hand. Sie holte meine Jacke und gab sie mir.

„Wollen Sie jetzt gleich einen neuen Termin ausmachen?“
„Gerne!“ sagte ich.

Wieder lächelte sie mich an und ging wieder zurück zur Anmeldung, wo das Terminbuch lag. Dann schaute sie mich an. Sie wartete auf meinen Wunschtermin.

Ich holte mein Smartphone aus der Tasche und öffnete den Kalender. „Heute in genau 6 Wochen, ginge das?“

„Bei mir, oder bei meiner Chefin?“

Jetzt strahlte auch ich sie an. Ich konnte wieder zu ihr! Welche Frage!

„Gerne wieder bei Ihnen! Meinen Füßen hat Ihre Behandlung sehr gut gefallen!“

Jetzt musste sie aber auch lachen, und wir lachten nun beide.

„Also bei mir in 6 Wochen!“

Ich gab ihr nochmals die Hand und verließ das Studio.

Draußen schien die Sonne. Diese Frau hatte mich zum Lachen gebracht. Meine Füße schmerzten nicht mehr. Alles war somit gut. Ich war total zufrieden.

...

 

»